Resilienz – warum Durchhalten keine Lösung ist

Artikel in der "Freie Psychotherapie Ausgabe 04/2021"


Resilienz ist zur Zeit in aller Munde. Seit dem Beginn der Corona-Krise Anfang 2020 haben sich unsere Welt und vor allem unser soziales Miteinander gravierend verändert. Inzwischen sind die Auswirkungen überall angekommen. Jeden von uns erreicht die aktuelle Krise in anderer Form:

Für den einen gibt es wirtschaftliche Konsequenzen – im positiven wie im negativen Sinne. Während einige Wirtschaftszweige und Unternehmen an den Lockdownfolgen in die Knie gehen und zusammenbrechen, blühen andere Zweige auf.

Wir erleben Verlust auf zwischenmenschlicher Ebene. Durch Kontaktsperre und Reduzierung des öffentlichen Lebens geraten zunehmend mehr Menschen in einen Strudel von Verlassenheitsgefühlen, Einsamkeit, Ausgrenzung und sozialer Isolation. Andere ziehen sich selbst zurück, aus Angst vor Ansteckung oder davor, andere Familienmitglieder oder Risikopatienten zu infizieren. Wieder andere fühlen sich Krankheit und Tod hilflos ausgeliefert. Dann gibt es auch diejenigen, die fest davon überzeugt sind, dass unser ganzes Heil nur durch Impfungen wieder in die Bevölkerung einziehen wird. Wem es bisher nicht gelungen ist, es mit sich selbst gut zu haben, sieht sich konfrontiert mit mehr oder weniger schmerzhafter Selbstbegegnung.

Zunehmend spaltet dieser kleine Virus mit seinen großen Auswirkungen unsere Gesellschaft in zwei Lager – in diejenigen, die sich fürchten, und diejenigen, die immer wütender werden und in den Widerstand gehen. Der tiefe Keil, der sich in unser zwischenmenschliches Miteinander getrieben hat, sorgt dafür, dass Konflikte an die Oberfläche kochen und entlädt sich ins Außen und am Gegenüber. Die zermürbenden Umstände der anhaltenden Kontaktsperre und damit die Illegalisierung nährender und regulierender Beziehungen hinterlassen tiefe Wunden in Psyche und auch Körper. Denn aus der Neurobiologie wissen wir inzwischen, dass soziale Isolation und Ausgrenzung dieselben Hirnareale aktivieren, die auch bei körperlichen Schmerzen oder Gewalt aktiviert werden.

Resilienz bedeutet nicht nur unsere Anpassungsfähigkeit in Krisen- und Belastungssituationen, sondern auch unsere Widerstandsfähigkeit und Flexibilität in der Krise. Beide Kriterien sind entscheidend dafür bzw. stellen schon in der Krise die Weichen dafür, ob und wie wir aus der Krise hervorgehen. Und dafür gibt es 3 typische Reaktionsmöglichkeiten.
Beginnen wir aber zunächst einmal damit, dass jeder Mensch in seinem Leben eine mehr oder weniger steile Entwicklung vollzieht. Manche Menschen gehen eher gradlinig durchs Leben mit verschieden großen Einbrüchen und Entwicklungsgelegenheiten. Für andere ist schon auf der Startbahn zu erkennen, dass ihre Entwicklungsachse eher holperig und beschwert ist.
Resilienz entwickeln wir nicht etwa dann, wenn unser Leben leicht und unbelastet ist. Ein geradliniges Leben ohne Herausforderungen birgt kein Entwicklungspotenzial für unsere Seele und Psyche. Resilienz zu entwickeln ist uns aber auch dann nicht möglich, wenn wir unter permanenter oder wiederholter Belastung zu zerbrechen drohen. Zu große Hürden, Verletzungen und Abstürze im Leben verhindern den Zugang zu einer gesunden und wirkungsvoll erlebten Selbstentwicklung.

Resilienz ist letztendlich das Resultat einer gesunden Wechselwirkung von Herausforderungen, die das Leben uns beschert, und der gelingenden Bewältigung dieser Herausforderungen mit Hilfe von einfühlsamer Unterstützung und Begleitung der Menschen, die in unserer Kindheit für uns verantwortlich sind. In den meisten Fällen sind das die biologischen Eltern. Doch auch andere Menschen können an ihrer Stelle diese unterstützende Rolle für uns einnehmen.

Resilienz bedeutet also, dass es mir mit angemessener Unterstützung gelingt, die Hürden des Lebens zu meistern und die sich daraus ergebenden kleinen neurobiologischen Erfolgs- und Glückscocktails in Form von Serotonin und Oxytocin mit anderen zusammen zu feiern! Daraus entwickeln sich neuronale Bahnen in unserem Gehirn, die bei wiederholtem Erleben stabiler und belastbarer werden. Gibt es Menschen, die aufrichtig und von ganzen Herzen an unserem Wohl und unserer Entwicklung interessiert sind, entwickeln auch wir eine lebendige und wohlwollende Haltung uns selbst gegenüber. Vermittelt uns jemand Vertrauen in die Welt und in uns, dann gelingt es uns auch – früher oder später – Vertrauen in uns selbst und die Welt zu erlernen und zu erleben – ein gesundes Urvertrauen.

Ein gesundes Selbstbild erwächst daraus, dass die Menschen um mich herum meine Gefühle und Bedürfnisse sehen, wertschätzen und sich dafür einsetzen, dass sie genährt werden. Werde ich von meiner Umwelt wahrgenommen und wertgeschätzt, lerne auch ich, mich selbst wahrzunehmen und wertzuschätzen.

Kommen wir noch einmal zu den 3 Regenerations(un)fähigkeiten und Reaktionstypen in Krisen zurück. Beginnen wir mit Typ I:
Typ I - Dekompensationsreaktion/ Regenerationsunfähigkeit:
Dieser Reaktionstyp, in der Abbildung rot dargestellt, repräsentiert einen Menschen, dem es bis zu einer entscheidenden Krise in seinem Leben einigermaßen gut gelungen ist, durch sein Leben zu kommen. Wie tief ich als Typ I in eine Krise stürze, ist im Wesentlichen davon abhängig, ob es mir im Vorwege gut gelungen ist, mich zu entwickeln. Übertragen auf die Abbildung: Je höher meine Entwicklungsachse angestiegen ist, desto weniger tief falle ich. Und / Oder aber auch: Je gravierender der Einfluss der Krise sich auf meine aktuelle Lebenssituation auswirkt, desto tiefer falle ich. Waren meine Startvoraussetzungen zu Beginn der Krise sehr niedrig, ist die Gefahr einer Dekompensation wesentlich größer. Leicht kann sich auf dieser Grundlage ein Depression oder zumindest tiefe depressive Episode entwickeln. Das bedeutet, dass es mir aus eigener Kraft heraus nicht mehr möglich ist, das Ausmaß der Krise zu bewältigen. Meine gesunden Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen greifen nicht mehr. Weil es mir nicht mehr gelingt, meine inneren und äußeren Ressourcen als Kraftquellen in Beziehung zur aktuellen Problematik zu setzen, um diese zu bewältigen, überwältigt die Krise mich.

Typ I-Menschen zerbrechen an kleinen oder größeren Herausforderungen des Lebens. In schweren Verläufen stellt sich ein Gefühl ein von Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit und der Überzeugung, dass nichts und niemand mehr helfen kann. Diese Menschen fühlen sich ihrer Umwelt und ihrem Schicksal ausgeliefert, da sie im Rahmen ihrer vielen Erfahrungen eine feste Überzeugung entwickelt haben, dass das Leben nichts Gutes zu bieten hat oder nicht mehr zu bieten hat. Für diese Menschen ist es unheimlich schwierig, sich Hilfe zu holen, da sie schon zu oft von anderen enttäuscht und verletzt worden sind und sich zunehmende Resignation und Kapitulation in ihnen ausgebreitet haben. Es entwickelt sich zunehmende Selbstaufgabe aus dem Gefühl heraus, keinen Einfluss auf Situationen und Personen nehmen zu können.

Typ II – Der Funktionstyp oder Überlebenskünstler – bedingte Regenerationsfähigkeit: in der Abbildung gelb dargestellt.
Wie schon die Bezeichnung ausdrückt, hat dieser Typ gut gelernt zu funktionieren und zu überleben. Die eine oder andere Herausforderung des Lebens hat dieser Typ bis zu einem gewissen Maße zu bewältigen gelernt. Als Reaktionstyp II zeichnet mich aus, dass ich immer wieder unter viel Kraftaufwand und Zuversicht meine Probleme anpacke und löse. Als Typ II habe ich auch keine großen Sorgen, dass ich bevorstehen Hürden nicht nehmen kann. Irgendwie gelingt es mir immer wieder – notfalls mit Gewalt gegen mich und / oder andere – auf die eigenen Füße zu kommen. Diese Härte sich selbst und anderen gegenüber birgt ein großes Potenzial an Verletzung in sich. Zu diesem Funktionstyp gehören auch die sogenannten Überlebenskünstler, denen es immer wieder gelingt, größtmögliche Herausforderungen zu suchen, zu finden und zu bewältigen. Und auch die Gefahrensucher, die immer wieder nach größeren Herausforderungen suchen, um sich durch Re-Inszenierung lebensgefährlicher Situationen, Unfällen oder Hobbys, richtig spüren zu können. In diesem Funktionsmodus habe ich aber nur wenig Kontakt zu meinen inneren Instanzen, die mir vermitteln könnten, was wirklich gesund für mich ist. Überleben ist etwas ganz anderes als zu leben.

Dieser Typ II ist vielen Menschen in unserer Gesellschaft in die Wiege gelegt. Haben wir als deutsche Gesellschaft doch gut gelernt zu funktionieren z.B. im Zeitalter des Nationalsozialismus und dem Wideraufbau danach. Werte, Glaubensmuster, Verhaltens- und Überlebensstrategien werden von einer Generation an die nächste weitergegeben, durch Epigenetik, Zuschauen und Erziehung. Und auch jetzt funktionieren wir gut – oder etwa doch nicht?
Auch wenn es mir als Typ II immer wieder gelingt zu überleben, sind doch die Anpassungsleistung und Kraftanstrengung erschöpfend, die ich aufbringen muss, um zu funktionieren. Es gelingt mir nicht, den Nutzen und die positive Auswirkung der Krise auf mich selbst zu erkennen und ich mache hinter einfach wieder so weiter, wie ich es vorher gemacht hat. Nach der Krise kehre ich als dieser Typ zu meinen alten und vertrauten Denk- und Verhaltensweisen zurück und möchte am liebsten schnell wieder zurück zur „alten“ Normalität und vergessen, was das Schlimme in der Krise eigentlich mit mir zu tun gehabt hat. Ich habe es ja schließlich überlebt! Ich falle immer wieder auf die eigenen Füße, darauf vertraue ich, aber die Aufschläge werden härter. Es macht sich zunehmende Erschöpfung breit und ich frage mich, was passiert, wenn ich es nicht mehr schaffe, zu funktionieren. Die Angst nimmt zu, dass ich als nicht mehr leistungsfähiges Subjekt dieser Gesellschaft ins Aus geraten könnte. Verlust des Arbeitsplatzes, finanzieller Verlust, sozialer Abstieg. Es droht, dass ich unter der Belastung breche und in Typ-I (rot) abrutsche.
Wenn wir plötzlich an den Punkt kommen, an dem wir merken, dass wir nicht mehr können, gelingt es uns vielleicht noch vorübergehend eine geeignete, gesellschaftlich-anerkannte Diagnose zu bekommen, die uns dabei hilft uns darin zu bestärken, dass das Ganze immer noch nichts mit uns zu tun hat. „Vegetative Dystonie“ hieß dies in Kriegs- und Nachkriegszeiten, „Burn-Out“ ist das moderne Wort dafür. Und vielleicht gelingt es uns sogar unter diesem Synonym zumindest nach außen die Haltung zu wahren. Wie sieht es derweil in unserem Inneren aus?

Da es mir im Typ II nicht gelingt, an Krisen zu wachsen und mein Entwicklungsachse zu stärken, droht die Gefahr zu dekompensieren, wenn ich immer wiederkehrende Einschläge oder langanhaltende Krisen erlebe. Meine Regenerationsfähigkeit lässt nach und erschöpft sich.

Das ist in der aktuellen Corona-Situation das größte Problem. Wir sind mit einer funktionstüchtigen und leistungsorientierten Gesellschaft zum Start dieser Krise angetreten. Und mit jeder weiter voranschreitenden Woche der Corona-Krise nähert sich ein Großteil der Bevölkerung immer weiter dem roten Pfeil und der Dekompensationsreaktion an. Was bleibt noch zum Regenerieren, wenn all die guten und nährenden Dinge des Lebens und die unterstützenden sozialen Kontakte plötzlich illegal sind? Wir müssen diese gesunden Bedürfnisse unterdrücken, was wiederum viel Energie kostet, die wir auch noch gegen uns selbst richten. Was für ein skurrile Situation, wenn wir es uns nicht gut gehen lassen dürfen!
Und wenn wir mal ganz ehrlich sind, dann wissen wir doch aus unseren Praxen, dass schon vor dem Beginn dieser Krise die sozialen und therapeutischen Systeme hoffnungslos überlastet waren. In vielen Ecken und Kanten dieses Systems waren bereits zunehmende Risse und Brüche deutlich vorhanden, durch die der eine oder andere bereits hindurchgefallen ist. Wie viele Menschen mit sogenanntem Burnout, Depressionen und Traumafolgestörungen sind uns schon vorher begegnet. Kinder, inzwischen teilweise Erwachsene einer nicht mehr funktionierenden Gesellschaft?

Aber zum Glück sind wir veränderbar, ist Resilienz erlernbar und es gibt noch den dritten Reaktionstyp:
Typ III – Resilienz – Regenerationsfähigkeit: in der Abbildung grün dargestellt.
Was uns Menschen mit unserem übergroß ausgeprägten Frontalhirn von anderen Lebewesen unterscheidet, ist die lebenslange Fähigkeit die Strukturen und Bahnungen unseres Gehirns zu verändern. Uns zu verändern kann sich positiv oder negativ auf unsere Entwicklung auswirken. Dadurch kann Resilienz bis ins hohe Alter gelernt (aber auch bei Überlastung verlernt) werden. In der Resilienzarbeit wollen wir uns dies zunutze machen, indem wir alte, destruktive Muster und Verhaltensweisen bewusst machen und diese in eine bedürfnisbejahende und kreative Selbstorgansiation bringen – was wiederum neue Bahnungen im Gehirn ermöglicht.
Was einen resilienten und regenerationsfähigen Menschen ausmacht, ist seine Fähigkeit Krisen und damit einhergehende Lebensveränderungen zunächst in Beziehung zu sich zu setzen: Was bedeutet diese Krise für mich? Wie wirkt sie sich (unabhängig von der Wirkung auf andere) auf mich persönlich aus? Was sind die Folgen und daraus resultierende Konsequenzen für mich und mein weiteres Leben? Zu erkennen, was ich durch die Krise verloren habe, dass die Welt um mich herum danach eine andere sein wird, gehört zu diesem Prozess dazu. Es geht darum, die Auswirkungen an mich heranzulassen, ihnen zuzustimmen, sie anzunehmen und dabei auch meine eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren. In Schritten bzw. Portionen, die ich selbst bestimmen und bewältigen kann. Und zu erkennen, wann und wo ich Hilfe benötige und den Mut aufzubringen, mir diese Hilfe auch zu holen. Bei Familie, Freunden und eventuell jemandem, der sich damit gut auskennt und mir eventuell sogar eine fachliche und kompetente Unterstützung geben kann. Am besten jemanden, der mir das Problem nicht abnimmt oder eine fertige Lösung auf dem Goldtablett serviert. Nicht darauf zu warten, dass Fördergelder mich über Wasser und abhängig halten. Sondern jemanden zu finden, der mir ermöglicht, aus eigener Kraft die Krise selbst zu bewältigen und mir an den richtigen Stellen die richtige Dosierung an Unterstützung zukommen lässt. Dadurch kann es mir gelingen, meine Selbstachtung wiederzugewinnen und nach und nach Vertrauen in mich und meine eigene Kraft zu entwickeln. Jemand, der mir hilft, zu erkennen, was in mir hinderlich daran ist, dass ich diese Herausforderung aktuell nicht selbst bewältigen kann. Denn auch zu viel Hilfe kann hinderlich sein.
Gesunde neuronale Strukturen entwickeln sich dann, wenn ich erlebe, dass ich wieder selbstwirksam und nachhaltig die gegenwärtige Situation beeinflussen kann. Dass ich selbst wieder über mich und mein Leben entscheiden darf, darüber, wann ich wen und wo treffe. Dass wir unserer Arbeit nachgehen dürfen, in einem Rahmen und Umfang, den wir selbst gestalten dürfen, wodurch es uns wieder selbst möglich wird unabhängig für uns zu sorgen. Dass wir aus uns selbst heraus und über uns hinauswachsen können.

Krisen auszuhalten, durchzuhalten, zu überleben und zu funktionieren, eignet sich hervorragend, um akute belastende Lebenssituationen zu bewältigen. Allerdings nicht, um in langanhaltenden Krisen wie der aktuellen Corona-Krise zu überleben und zu wachsen. Die Gefahr darin auszubrennen und zu zerbrechen, ist auf die Dauer zu groß.
Wir brauchen keine kurzfristigen und vorübergehenden Lösungen mehr, sondern grundsätzliche Veränderungen in unseren Denk- und Verhaltensweisen. Wir müssen den Blickwinkel erweitern und die negativen Auswirkungen dieser Krise nicht nur auf alte Menschen und Risikogruppen beschränken, sondern das Wohl aller wieder in den Blick nehmen. Vor allem auch der Kinder und Jugendlichen, die von uns Erwachsenen und unserem Wohlwollen abhängig sind und deren Gehirne sich noch in viel schnelleren Aus- und Umbauprozessen befinden.
In der Krise stellen wir die Weichen dafür, wie wir aus der Krise hervorgehen. Also warum nicht jetzt gleich damit beginnen, anstatt darauf zu warten, dass Corona, Lockdown und seine Konsequenzen von alleine wieder gehen.

Diagramm Resilienz

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